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Editorial

Der Straßenbahn-Millenniums-Virus

03/02/2005

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Manni Klagenfurt? Ja, dort gab es mal eine Straßenbahn. Bis 1963. Dann wurde sie eingestellt. Kennen wir nur von alten Fotos - wenn überhaupt. Lustenau, Dornbirn? Noch ältere Fotos - eingestellt 1938. Gmunden? Nett. Aber verkehrlich so bedeutend wie ein Citybus. Was ist mit Graz? Großes Netz, aber, auweh, schwer vernachlässigt. Ein ganzer Stapel von Planungen in den letzten 20 Jahren. Davon verwirklicht? So gut wie nichts.
Einzig in Linz, da scheint sich was zu tun - aber, so mag man meinen, das kann ja nur die Ausnahme sein, die die Regel bestätigt.

Doch dann bricht ein neues Millennium an, und plötzlich geschehen vielerorts und unerwarteter Weise - oder doch nicht ganz unerwarteter Weise? - seltsame Dinge.
Und zwar Dinge, mit denen man als Kind der 1970er, aufgewachsen mit verschlissenen und versifften, klapprigen und unter den Werbefolien angerosteten, gebraucht beschafften Straßenbahnwagen aus den 1950ern und noch älterem Gerät, und immer wieder medial konfrontiert mit all den ach so zahlreichen Segnungen des Automobils und der Ineffizienz der behäbigen und ausgedienten Tram, niemals gerechnet hätte.

Ein seltsamer Virus scheint sich der politisch Zuständigen in den genannten Orten bemächtigt zu haben. Ist es ein Virus, etwa gar einer jener gefürchteten Y2K-Bugs, ein Millenniums-Virus?

Der Straßenbahn-Millenniums-Virus?

In Gmunden wird, wer hätte das gedacht, die erste Niederflurstraßenbahn eingegleist, wenn auch nur zur Probe. Man will die Tram modernisieren und später soll außerdem eine Stadtregionalbahn dazukommen.

Wenig später geschieht es auch in Innsbruck: die erste Niederflurbahn wird getestet.

Währenddessen wird in Linz eine neue Linie eröffnet, und ein Jahr später nimmt ebenfalls in Linz eine aufwändige, neue Tunnelstrecke in der Innenstadt den Betrieb auf.

In Gmunden laboriert man inzwischen schon an der Bestandsstrecke - sie wird saniert. Als Vorleistung für den späteren Ausbau.

Vorarlberg meldet sich nun zu Wort: das untere Rheintal sei ein großstädtisches Ballungsgebiet, man brauche dort eine Ringstraßenbahn, weil die Straßenbahn das effizienteste aller Verkehrsmittel sei. In einer ersten Ausbaustufe solle sie von Dornbirn nach Lustenau fahren und im Endausbau alle größeren Städte und Marktgemeinden erschließen, die die "Agglomeration Rheintalstadt" bilden. Nach Karlsruher Vorbild sollen Vollbahnstrecken mitbenutzt werden.
Die Opposition macht Druck, um dieses Projekt zu prüfen. Tram-Aussichten für das Ländle? Vielleicht, es spricht vieles dafür!

In Innsbruck ist man sich mittlerweile ganz sicher und verabschiedet ein finanziell abgesichertes Ausbauprogramm für fast 300 Millionen Euro, schreibt auf einen Schlag nagelneue Fahrzeuge für das ganze Bestandsnetz aus und beginnt unverzüglich mit Planung und Bau der Neubaustrecken.
Entstehen sollen zwei neue Straßenbahnlinien und eine Stadtregionalbahnlinie; die, die es schon gibt, werden optimiert. Später kommt vielleicht noch eine weitere Stadtregionalbahnlinie dazu.

Da will auch Klagenfurt nicht hintennach bleiben: eine Regional-Straßenbahn über den Ring zum See und auf ÖBB-Strecke weiter bis nach Velden soll her, nach einem Stadtsenatsbeschluss wird eine Machbarkeitsstudie für 30.000 Euro in Auftrag gegeben. Bei einem Innsbrucker Planungsbüro, übrigens.
In einem ersten Verkehrsgipfel aller Parteien soll schon bald die weitere Vorgangsweise festgelegt werden.

Und Graz erwacht jetzt ebenfalls aus kernöligem Dornröschenschlaf: die Linien 4, 5 und 6 werden verlängert, noch heuer wird begonnen, 30 neue Niederflurfahrzeuge werden ausgeschrieben. Für 50 Millionen Euro.

Selbst der pessimistischste gelernte Österreicher, die pessimistischste gelernte Österreicherin, tram-interessiert, kann inzwischen aufhören, sich ungläubig die Augen zu reiben und die seltsamen Geschehnisse als Vorboten baldiger Wahlen oder anderer sich zum Vorschub anbietender Gründe abzutun.
Fakt ist: es tut sich was in Österreich, die Tram kehrt zurück, und wo sie es noch nicht tut, gibt es einflußreiche Leute, die wollen, dass sie es tut.

Wenn die Entwicklung so weitergeht, wie sie sich seit Beginn des Jahrtausends abzeichnet, hat dieses Land mit seinen derzeit fünf Straßenbahn-Betrieben in zehn Jahren derer mindestens sieben - wer weiß, wo man sonst noch Tram-Gedanken wälzt, auch aus St. Pölten, beispielsweise, vernahm man bereits Derartiges - und die Gleislänge einiger der fünf jetzt schon bestehenden Betriebe ist bis auf das Doppelte oder darüber hinaus gewachsen.

Selbst die bereits erwähnte Pessimistin, der Pessimist, wird zu diesem Zeitpunkt, hoffentlich freudig, zur Kenntnis nehmen müssen, dass die meisten der seltsamen Dinge, die sich heute am Horizont abzeichnen, dann bereits greif- sowie stufenlos betret- und erfahrbar sind. Vieles davon schon wesentlich eher.

Wir können uns freuen, die dunklen Zeiten sind vorbei.
Österreich geht in ein neues Tram-Zeitalter!

Signatur
Manni Schneiderbauer



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